Unter den Autoren der Bologneser Tradition ist Anonimo derjenige, über den wir mit Abstand am wenigsten wissen. Doch vielleicht macht genau das ihn auch so faszinierend. Er ist umgeben von einer gewissen Dunkelheit – nicht nur seine Person, sondern auch sein Werk. Dieser Artikel soll einen Überblick über das Vermächtnis des anonymen Autors verschaffen und ihn euch näher vorstellen. Eine englische Kurzversion dieses Artikels findet ihr auf unserem YouTube-Kanal (hier zum Video).

Die beiden Manuskripte, die Anonimo zugeordnet werden, tauchten um die Jahrtausendwende in der Biblioteca Classense in Ravenna, Emilia-Romagna, auf. Ein Begründer und Mitglied der SAAM (Sala d’Arme Achille Marozzo) stieß bei Recherchearbeiten zufällig auf die zwei Handschriften. Davide Longhi holte seine Kollegen Marco Rubboli und Luca Cesari dazu, um die Schrift unter die Lupe zu nehmen. Ihnen ist es zu verdanken, dass 2005 eine Transkription veröffentlicht werden konnte, mit deren Hilfe auch unser Verein seine Arbeitsübersetzungen anfertigen konnte (hier zu unseren Übersetzungen).

Die Schriften

Die Manuskripte tragen die malerischen Namen ms.345 und ms.346. Obwohl sie in verschiedenen Handschriften verfasst sind, passen sie inhaltlich einwandfrei zueinander. Laut Recherche der italienischen Kollegen geht man davon aus, dass ms.345 vom Autor persönlich verfasst wurde – eine Art Entwurf, der später hätte überarbeitet werden sollen. Ms.346 hingegen scheint bereits die kundige Abschrift eines Schreibers zu sein.

Der Schluss, beide Teile zweifellos der Bologneser Tradition zuzuordnen, lag schnell auf der Hand: Didaktik und Bezeichnungen stimmen zu großen Teilen überein, auch die präsentierten Waffen und Kombinationen passen ins Bild.

Spekulationen und Fakten

Eine Analyse des Papiers durch Mitarbeiter der Biblioteca Classense datiert die Schriften auf den Anfang des 16. Jahrhunderts zurück, genauer gesagt auf einen Zeitraum bis maximal 1520. Somit ist klar, dass Anonimo chronologisch vor Marozzo einzuordnen ist. Die Herausgeber spekulieren im Vorwort der Transkription, es könnte sich bei Anonimo gar um den Lehrmeister von Achille Marozzo handeln: Guido Antonio di Luca. Marozzo beschreibt dessen Person gewohnt pompös in seiner Opera Nova von 1536:

“Maestro Guido Antonio de Lucha Bolognese, della cui schola si può ben dire che sieno più guerrieri usciti, che del Troiano Cavallo […]” Übersetzt: “Bologneser Meister Guido Antonio di Luca, von dem leicht behauptet werden kann, aus seiner Schule seien mehr Kämpfer hervorgegangen, als aus dem Bauche des trojanischen Pferdes.”

Di Luca soll selbst ein Fechtbuch verfasst haben, welches aber erst nach seinem Tod 1532 gedruckt wurde. Davon sprechen zumindest Quellen aus jener Zeit. Dummerweise ist bis heute kein einziges seiner Bücher aufgetaucht. Solange das so bleibt, werden wir wohl nie erfahren, ob di Luca und Anonimo wirklich ein und dieselbe Person sind.

Das Vermächtnis von Anonimo

Die erste Schrift beginnt recht einsteigerfreundlich mit der Basis: Guardie, Hiebe, Schrittarbeit und einige philosophische Ausführungen des Autors zur Fechtkunst. Es folgen die „abbattimenti di spada sola” – kurze Techniken für das Einzelschwert. (Wer sich für den Unterschied zwischen “abbattimento” und “assalto” interessiert, möge „Das Rückwärts-Puzzle“ lesen)

Die zweite Schrift beginnt mit einem Teil zum zweihändig geführten Schwert, dem Spadone. Dieser Abschnitt beginnt allerdings völlig unvermittelt und ohne jeden Anfang. Was sagt uns das? Zunächst, dass die beiden gefundenen Manuskripte nicht alles sind, was der Autor geschrieben hat oder schreiben wollte. Es fehlt zumindest ein drittes Manuskript, das den Inhalt zwischen ms.345 und ms.346 abdecken sollte.

Zweitens besteht beim Teil zum Spadone eine gewisse Ähnlichkeit zu Marozzos drittem Assalto. Nachdem Anonimo seine Texte mit hoher Wahrscheinlichkeit lange vor Marozzo verfasste, lässt auch dieser Umstand Raum für Spekulationen zu. Wer war er und welchen Einfluss übte er auf die nachfolgenden Fechtmeister aus?

Nach dem Teil zum Spadone folgen noch weitere Stücke und Technikabfolgen zu anderen Waffenkombinationen (Schwert mit brocchiero, targa, rotella, Panzerhandschuh und Greifhandschuh, Spadone gegen Stangenwaffen usw.).

Die Dunkelheit um Anonimo

Ich konzentriere mich nun auf den Anfang des ersten Manuskripts, den ich persönlich für sehr charakteristisch halte. Wer die Stellen kennt, kann sich vielleicht ein ungefähres Bild von der Person machen, die hinter den Schriften steht.

Auf den ersten Seiten beschreibt Anonimo die Fechtkunst noch sehr allgemein und legt seine philosophischen Ansichten dar. Sehr auffällig ist die fehlende „Frömmigkeit“ – vor allem im direkten Vergleich zu Marozzo. Sehr sparsam sind die Verweise auf den Gott der Christenheit. Wir finden keine großen Anhäufungen von sakral angehauchten Adjektiven, Verweise auf die „göttliche“ Kunst, oder Formulierungen wie „im Namen Gottes“ an jedem neuen Kapitelanfang. Es werden auch keine Heiligen aufgezählt und um deren Beistand gebeten. War Anonimo vielleicht kein großer Freund der Religion oder zumindest der Kirche?

Auch unterscheidet sich Anonimos Bild eines „ehrbaren und idealen Fechters“ von dem der anderen Meister. An einer Stelle lässt er sich fast spöttisch über die „anmutigen Fechter“ aus, die ihre großen und schönen Bewegungen im gioco largo machen, dabei aber auf den eigentlichen Sinn der Kunst vergessen. Das Töten.

Illustration: Elisabeth Orion & Alex Zalud 2022

Kämpfen wie der Teufel

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“ […] la vera virtù di questa arte consiste in essere terribile et avere in sé ferocittà grandissima […] et li colpi seino di tal aspreza e crudi, che ‘l più ligiero colpo sia suficiente a metergli grandissimo timore […] et se posibile fuse parerà il gran diavolo et mostrargli de dargli la morte […]”

„Die wahre Tugend dieser Kunst besteht darin, furchteinflößend zu sein und von größter Grausamkeit […] und die Hiebe seien von solcher Rauheit und Rohheit, dass der mildeste Angriff [deinem Feind] große Furcht einflöße […] und so möglich, erscheine wie der große Teufel selbst und zeige, dass du [ihm] den Tod bringen wirst […]“

Eine Stelle von dunkler Theatralik, nicht wahr? Trotzdem gibt sie kämpferisch mehr her als andere Autoren in einem ganzen Kapitel zu vermitteln vermögen. Der psychologische Aspekt eines Kampfes ist nicht nur von größter Wichtigkeit, er ist entscheidend. Das wusste Anonimo. Sobald es um Leben oder Tod geht, schlägt Brutalität jede Anmut; und ein Gegner, der sich fürchtet, wird berechenbar und lässt sich leichter lenken. Allgemein gesehen ließe dieser Abschnitt sich wohl auf jede tödliche Auseinandersetzung umlegen, egal ob im 16. Jahrhundert oder in unseren „modernen“ Zeiten, in denen mit Angstmache und psychologischer Kriegsführung mehr denn je gearbeitet wird.

Der ideale Fechter

An einer anderen Stelle beschreibt Anonimo die vier Qualitäten, die den idealen Fechter seiner Meinung nach ausmachen: animo, forza, ingegno und destrezza.

Die Herausgeber der Transkription ziehen in einer Fußnote eine Parallele zu den vier Eigenschaften von Fiore dei Liberi (audacia, prudentia, fortitudo, celeritas); solche Vergleiche lassen sich zwischen hunderten von Werken und Stilen auf allen Kontinenten machen. Ich persönlich halte sie für interessant, gleichzeitig aber nur für bedingt zielführend im Kontext einer Analyse und Rekunstruktion – zumindest, wenn sie als Beweise für eine lineare, homogene, „italienische“ Fechtentwicklung herhalten sollen.

Der kleine Ausschweif sei mir verziehen, aber Geschichte und ihr Kulturgut in bestimmte Formen pressen zu wollen, nur damit der Nationalstolz gestärkt werden kann, lösen bei mir eine starke Allergie aus. Vor allem stimmen in diesem speziellen Fall nicht einmal die Wortbedeutungen zu 100% überein. Konzentrieren wir uns also auf eine Deutung im Kontext des Werkes selbst. Anonimo beschreibt seine Eigenschaften leider nicht näher, doch aus dem Kontext würde ich folgende, etwas detailliertere Interpretation wagen:

Der ideale Fechter ist behände mit dem Schwert und verfügt über bestmögliche Waffenkontrolle – destrezza („Geschicklichkeit“). Er studiert die Kunst des Fechtens in seiner Gesamtheit und kennt Techniken und Taktiken, er handelt überlegt und ist aufmerksam: ingegno („Verstand“). Ein starker Geist residiert bekanntlich in einem starken, gut durchtrainierten Körper: forza („Stärke“). Zuletzt ist der ideale Fechter ein kühner Kämpfer. Er zögert nicht. Das Ziel klar vor Augen führt er jeden Angriff mit dem Ziel, zu töten: animo („Mut/ Entschlossenheit“, vielleicht auch „Verwegenheit“, wenn man Anonimos grundsätzliche Einstellung zum Kampf in Betracht zieht). Edit 20.07.2022: „Zielstrebigkeit“ fasst die Bedeutung von „animo“, die uns am wahrscheinlichsten erscheint, am besten zusammen – danke an Manuel!

Einer unserer Versuche, uns einem Linienkampf auf dem Schlachtfeld trainingstechnisch anzunähern. Foto: Fior della Spada 2022

Der Veteran der Bologneser Schule

Die Manuskripte des Anonimo sind eine wichtige Ergänzung zu den anderen Meistern der Bologneser Schule. Es wird ein Aspekt des Kampfes und der Fechtkunst umrissen, der weniger auf das Duell abzielt, sondern wohl eher im Kontext des Schlachtfeldes zu verorten ist.

Es macht Sinn, dass zur Zeit von Anonimo der Fokus noch viel mehr auf dem Fechter als Soldaten lag. Erst im Laufe des 16. Jahrhunderts sollte das Ehrenduell immer mehr in den Vordergrund rücken, während der Gebrauch von Blankwaffen auf dem Schlachtfeld sich immer mehr wandelte und diese irgendwann zur Gänze an den Rand gedrängt wurden.

Anonimo selbst hat mit großer Sicherheit selbst an Schlachten teilgenommen und wohl viel Grausames gesehen und getan. Egal wer er nun wirklich war, ob ein Fechtmeister, ein Condottiere, oder vielleicht auch ein großmäuliger Adeliger… seine Manuskripte wirken an vielen Stellen wie die Hinterlassenschaft eines Kriegsveteranen, der trotz allem seine Faszination und Ehrbietung für die hohe Kunst des Fechtens nie verloren hat.