Vier Hauptquellen gibt es in der Bologneser Tradition. Zwei davon zeigen eine Fechtweise, die stark von Ästhetik beeinflusst scheint. Ein Autor vertritt hingegen eine deutlich abweichende Auffassung von „korrektem Fechten“. Eine sehr pragmatische, manchmal schon brutal anmutende Auffassung. Der Anonimo Bolognese als Vertreter der „Dunklen Seite“ der Bologneser Tradition?

Betrachtet man die „Szene“, so fällt auf, dass die Bologneser Tradition in den letzten Jahren an Verbreitung gewonnen hat. Waren wir jahrelang der einzige Verein im deutschsprachigen Raum, hat sich das inzwischen – zumindest in Deutschland – geändert. In Österreich sind wir weiterhin allein auf weiter Flur.

Betrachtet man die diversen Youtube-Videos verschiedener Gruppen, zeigt sich auch in unserer Fechtmethode bereits die Spaltung in Turnier- und Rekonstruktionsfechter. Erstere findet sich besonders im Ursprungsland unserer Kunst, Italien, wo allein die schiere Anzahl an Aktiven dies natürlich erst ermöglicht.

Blickt man nun aber in die Richtung der Rekonstruktion, ergibt sich ein beinahe homogenes Bild: elegante Hiebe mit großen Bewegungen, lange Schritte, und kreisende Klingen. Offenbar sind Dall’Agocchie und Manciolino zu Lieblingen der Aktiven avanciert. Sprezzatura everywhere!

Nun sind beide Quellen im Vergleich nicht besonders umfangreich. Manciolino hat ein wenig von einem Reader’s Digest, besonders in den einleitenden Kapiteln. Der gute Giovanni zeigt uns in Dialogen, wie er einen Schüler ausbildet – oder besser, ihm die Grundlagen erklärt.

Hingegen haben wir mit dem Manuskript aus Ravenna ein umfangreiches Werk vor uns, in dem wir beinahe eine komplette Darstellung der Technik des unbekannten Autors finden. Von den Guardie, über die Schritte und Hiebe, bis hin zur zu Grunde liegenden Philosophie seiner Methode. Dazu eine Fülle an Beispielen für eben diese Methode in verschiedenen Graden der Komplexität.

Das Mansukript des Anonimo war lange Zeit nur als Transkription erhältlich. Vielleicht ist auch dies ein Grund für seine bisher eher geringe Verbreitung. Erst seit 2020 ist er auch als englische Übersetzung von Stephen Fratus frei verfügbar (siehe Links unten). Die nächsten Jahre werden uns also zeigen, ob er sich gegen seine drei Brüder Achille, Antonio und Giovanni doch noch durchsetzen kann.

Gerade die Philosophie ist es, die ich besonders spannend finde – und die ihn, vielleicht, für viele der modernen Aktiven so unattraktiv macht. Denn er vertritt nicht die humanistischen Ideale der Renaissance, nicht einmal die des Christentums. Ganz im Gegenteil fordert er, dass ein Fechter gnadenlos zu sein hat, wenn er den Sieg erringen will. Der Gegner soll ihn fürchten, wie „den Großen Teufel selbst“, der gekommen ist „seine Seele hinwegzufegen“.

Das klingt nicht unbedingt sympathisch. Nicht in einer Szene, in der viele sich gar nicht mehr damit konfrontieren wollen, dass diese Techniken zum Ziel haben, einen Menschen zu verstümmeln und zu töten.

Ich sehe den Anonimo Bolognese als alten Haudegen, einen Veteranen vieler Schlachten, der sich nicht mehr um Feinheiten schert. Oh, er strebt nach Schönheit im Fechten, aber er definiert diese anders. Er kennt die „eleganten Fechter, die weite Hiebe im Gioco largo führen“ – aber er weiß auch, dass sie nur allzu oft von weniger schönen, aber brutalen Kämpfern überwältigt werden. Und von solchen, die im Gioco stretto zu fechten wissen.

Er gibt sich nicht mehr damit ab, die Bewunderung eines Publikums zu erlangen. Seine Stücke sind dementsprechend auch meist kurz, selten mehr als ein, zwei Schritte. Länger hat man nicht Zeit, um einen Gegner zu erledigen, wenn man auf dem Schlachtfeld steht.

Die Eleganz der weiten Hiebe ist bei ihm ebenfalls eher selten. Zumeist sind seine Angriffe hart und direkt, eine Finte in einer Finte oft, bei der jeder Hieb aber bereits potentiell tödlich ist, falls der Gegner ihn nicht abwehren kann. Fechtet man die Stücke in voller Geschwindigkeit, erkennt man oft erst, wie gefährlich diese Abfolgen tatsächlich sind – und wie schwer es ist, sich dagegen zu verteidigen.

Das erfordert aber wiederum eine Charaktereigenschaft, die der Autor immer wieder als eine der essentiellen anspricht: Animo – Mut. Der Anonimo Bolognese fordert den Mut, dem Gegner entgegen zu treten. Nicht nur bildlich, sondern physisch. Weiche nicht zurück, pariere nach vorne, weiche zur Seite, aber nicht nach hinten aus – und wenn, dann muss es eine Täuschung sein. Lass deinem Gegner keine Sekunde Luft. Übe soviel Druck aus, dass er darunter zusammenbricht.

Dabei muss das nicht durch ständige Angriffe geschehen. Allein das nicht-zurück-weichen führt oft schon zum Zusammenbruch der Körperstruktur. Dazu gehört natürlich eine starke Verteidigung, da der Gegner in Panik oft einfach wild um sich schlägt.

Der Anonimo Bolognese erinnert uns in vielen Dingen an die Sith, die Anwender der Dunklen Seite. Sie kanalisieren ihre Wut, geben niemals nach und befinden sich ständig im Angriff. Ganz so extrem ist die Lehre des Autors nicht, aber dennoch dunkel im Vergleich zu Tänzern wie Dall’Agocchie. Wenn man sich einige Textpassagen ansieht, hat er damals schon nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg gehalten.

Wir haben mit diesem Manuskript das Vermächtnis eines Mannes, dessen Lebenseinstellung wohl schon damals nicht unbedingt dem entsprach, was man gerade als „schicklich“ empfand. Aber wie so oft, ist auch hier „konform“ nicht unbedingt „besser“.

Autor: Alex Zalud

Links & Quellen: