„Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ – das politische Motto des DDR-Staatschefs ist zugegebenermaßen etwas provokant, noch dazu im Hinblick auf den Begriff Sprezzatura. Andererseits ist der Anonimo Bolognese in vielerlei Hinsicht ebenfalls provokant. Vor allem in seinem Verhältnis zu den anderen Autoren seiner Tradition. Besonders in den einleitenden Kapiteln seines Buches klingt eine tief empfundene Abscheu gegen bestimmte Spielarten der Fechtkunst mit.

Es ist vor allem das „anmutige Fechten“, das ihm missfällt, dieses rein auf Optik hin getrimmte Fechten, das vor allem im Kontext des „sportlichen“ Gefechts verwendet wird.

Turnier-Fechten im 16. Jahrhundert?

Ganz so darf man sich das wohl nicht vorstellen. Wenn wir nach den Quellen gehen (die in diesem Bereich bruchstückhaft sind), dann dürfen wir uns kein Turnier nach modernem Vorbild vorstellen.

Ähnlich wie bei den deutschen Fechtschulen, gab es wohl Wettkämpfe, bei denen Publikum anwesend war. Und offenbar war dessen Meinung nicht ganz unwesentlich, denn die Autoren erwähnen immer wieder, wie wichtig das „äußere Erscheinungsbild“ eines Fechters war.

Die Anmut und Eleganz eines Fechters wurden im Hinblick auf das Ideal der Sprezzatura gemessen.

Was bedeutet Sprezzatura?

Was bedeutet dieser Begriff, der in letzter Zeit auch immer wieder im Kontext des Historischen Fechtens auftaucht?

Nun, Wikipedia sagt dazu: „Der Begriff Sprezzatura wurde von Baldassare Castiglione als Fähigkeit beschrieben, auch anstrengende Tätigkeiten und Aktivitäten oder solche, die langes Lernen und Üben voraussetzen, leicht und mühelos erscheinen zu lassen.“

Castiglione definiert in seinem Il Cortegiano den idealen Höfling – und gleichzeitig den perfekten Renaissancemenschen, wie wir heute sagen würden. Es ist der universell gelehrte Mensch, der sowohl in geistigen wie in körperlichen Fähigkeiten ausgebildet ist. Er ist in allen Belangen herausragend und dabei so bescheiden wie genügsam.

Dies ist also das Ideal – und dieses Ideal zeigt in allen Dingen Sprezzatura.

Sprezzatura zeigen

Das Konzept hat nur einen Haken: die meisten Menschen können Sprezzatura nicht erkennen, da sie selbst so weit davon entfernt sind. Es ist ein Idealbild, für das es keine Vorlage gibt. Wie also kann man zeigen, dass man Sprezzatura verkörpert?

Für die Fechter der Renaissance lag Sprezzatura offenbar im Auge des Betrachters. Und genau jenes musste aktiviert werden, damit der Betrachter sein Urteil auch zum Ausdruck brachte. Zum Ruhme des jeweiligen Fechters.

Wie im modernen Bühnenfechten auch, musste der Zuschauer die Aktionen sehen können. Er musste in der Lage sein, den Bewegungsabläufen zu folgen, auch wenn er selbst kaum Ahnung von der Materie hatte. Also führte man die Hiebe lang und weit, blieb im Gioco largo und machte das Gefecht zu einem Tanz mit Klingen.

Und genau dies ist es, was der Anonimo Bolognese kritisiert.

Effizienz als Sprezzatura

Für den unbekannten Autor ist dies nicht Sprezzatura. Es ist eine rein optische Sache, die im echten Gefecht mehr schadet als nützt. Sie ist selbst von einem eher schlechten, aber entschlossenen Gegner leicht zu überwinden. Wenn der Gegner weiß, im Gioco stretto zu fechten, kann man so nur verlieren.

Echte Sprezzatura entspringt für ihn aus Effizienz. Keine verschnörkelten Techniken, keine langen Hiebe – sondern schnelles, effizientes Beseitigen einer Bedrohung. Nicht der Sieg in der Fechtschule zählt, sondern der auf dem „staubigen, sonnenverbrannten Schlachtfeld“. Und darauf zielt seine ganze Methodik ab.

Hinten ist keine Richtung

Für den Anonimo ist „Hinten“ keine valide Richtung im Fechten – außer nach einem Treffer, im Abzug. Bevor es überhaupt zum Klingenkontakt kommt, kann man sich bewegen wie man will, aber sobald es ein Tempo gibt, ist Rückwärts keine Option mehr für ihn.

Es ist diese einfache „Formel“, mit der man auch im Training arbeiten kann. Die Umstellung ist nicht ganz einfach, aber wenn man einmal den sprichwörtlichen „Schalter“ umgelegt hat, eröffnen sich erstaunliche Möglichkeiten.

Freie Ressourcen

Der unmittelbare Nutzen dieser Methode besteht darin, sich mit einem Mal keine Gedanken mehr darüber machen zu müssen, wie man vom Gegner wegkommt. Durch das Ausblenden des Rückzuges ändert sich das Denken.

Plötzlich sind die Seiten deutlich relevanter – und vor allem auch mental präsent. Während man sonst oft in der geraden Bahn gefangen ist, öffnet sich durch das simple Entfernen des „Hinten“ die gesamte Bandbreite möglicher anderer Richtungen.

In späteren Jahren des Fechtens werden wir eine Übung finden, die sich „Fechten an der Mauer“ nennt, und den Schüler darauf drillen soll, nicht zurückzuweichen. Das Konzept ist ähnlich, dennoch aber nicht gleich.

Die Methodik des Anonimo basiert nicht allein darauf, den Rückzug zu verwehren. Vielmehr setzt es auf eine „aktive Vorwärtsverteidigung“. Dies ist nicht gleichbedeutend mit ständigem Angriff, sondern setzt den Gegner permanent unter Druck. Er soll den Eindruck haben, dass jede unserer Bewegungen gefährlich ist, weshalb er nie in seiner Wachsamkeit nachlassen darf. Er wird also mental auf Defensive gestellt.

Dies macht für uns natürlich wieder Ressourcen frei, denn ein Gegner der permanent damit beschäftigt ist, an die Gefahr zu denken, kann nur mit halber Kraft angreifen. Und wir können ihn leichter provozieren, doch noch einen Angriff zu setzen.

Fazit

Sprezzatura, wie der anonyme Autor sie versteht, hat nichts mit „elegantem Fechten“ zu tun. Seine Auffassung von Anmut ist eine pragmatische: wenn man den Gegner besiegt, ohne sich viel zu bewegen, ist das anmutig genug. Das ist wahre Sprezzatura, denn wie könnte man die Fechtkunst besser einfach erscheinen lassen?