In letzter Zeit lese ich öfter den Begriff „Italienisches Fechtsystem“. Was aber soll das sein? Gibt es so etwas überhaupt? Und wenn, was würde es ausmachen? Disclaimer: Dieser Artikel mag unliebsame Dinge enthalten.

Ein System aus Italien

Beginnen wir mit der Bezeichnung an sich. Hier finden wir bereits den ersten Irrtum, denn „Italien“ gibt es den Großteil der Geschichte hinweg, nicht. Den Staat gibt es erst nach dem Risorgimento, dessen Beginn der Wiener Kongress 1814/15 markiert. Davor besteht die Apeninnhalbinsel aus einem Fleckenteppich aus Fürstentümern, Stadtstaaten und Vasallenstaaten des HRR.

Das wäre vielleicht noch nicht so entscheidend, lägen diese unterschiedlichen Gebiete nicht noch dazu großteils in ständigem Konkurrenzkampf und Krieg. Ein Austausch existierte sicherlich, aber auch eine starke Tendenz zur Abgrenzung. Man war Florentiner und sah auf die Venezianer herab (oder betrachtete sie neidvoll), man war Bologneser und stolz darauf.

Wie überall auf der Welt waren auch hier Kampfkünste Teil der nationalen Identität – etwas, worauf man stolz war und das man nicht an „Fremde“ weitergab. Oder zumindest nicht an jeden.

Ein Fechtsystem

Nun kommen wir zum zweiten Teil des Begriffes. Wir sprechen hier über eine Zeitspanne von mindestens fünf Jahrhunderten, in der sich Waffen-, Rüstungs- und Kriegstechniken massiv veränderten. Von Fiore, der seine Methodik noch stark vom Harnischkampf ableitet, über die Bologneser, die gar keine Rüstung verwenden, über den Rapier zum zivilen Duell, bis hinauf zu Smallsword und Duellsäbel.

Es kann hier gar kein gemeinsames System geben. Dazu sind Waffen und Kontext viel zu unterschiedlich!

Nomenklatur

Gerne wird eine gemeinsame Nomenklatur ins Feld geführt. Nur hält dies einer genaueren Betrachtung nicht stand. Denn die „gemeinsamen Begriffe“ sind solche, die der Sprache entspringen, nicht dem Kontext.

Mandritto hat in seiner linguistischen Herleitung die Bedeutung von „direkt von der Hand“. Demnach man von einem Rechtshänder ausging, kann man es auch als „von rechts“ oder „Vorhand“ übersetzen. Es hat aber keine exklusive fechterische Bedeutung.

Ebenso ist es mit vielen anderen Begriffen. Coda longa bezieht sich auf ein Sprichwort, wonach der Meister einen „langen Schwanz an Gefolgsleuten“ besitzt. Cinghiara (das Wildschwein) wurde als Begriff für eine bestimmte Haltung in Bezug auf Plinius d. Ä. gewählt, der das Tier mit einer ebensolchen in Bezug setzt.

Und dann kommen Autoren wie Agrippa und Viggiani, die mit der Nomenklatur ihrer Vorgänger komplett brechen. Oder Altoni, der eine gänzliche andere Nomenklatur als seine Bologneser Zeitgenossen verwendet, obwohl seine Methodik nicht ganz so weit entfernt scheint.

Der scheinbar gemeinsamen Nomenklatur ist also vor allem die Sprache gemein (und nicht einmal das, wenn man präzise ist). Ja, es können sogar unterschiedliche Bedeutungen mit gleichen Begriffen transportiert werden.

Methodik

Der deutlichste Unterschied dürfte in der Methodik liegen. Vergleichen wir die einzelnen Quellen, haben wir ein Potpourri an Körperhaltungen, Motorik und Taktik vor uns, das bunter kaum sein könnte. Ja, es gibt Gemeinsamkeiten, aber die bestehen auch mit Stilen aus dem Fernen Osten.

Allein im Rapier haben wir mindestens vier verschiedene Methoden vor uns, die sich deutlich unterscheiden.

Was uns aber fehlt, sind die gemeinsamen Elemente. Wir haben vier Werke, die tatsächlich die selbe Nomenklatur und Methodik verwenden, die Bologneser Autoren, ansonsten sehen wir einzelne Werke ohne Zusammenhang. Nicht einmal die Herkunft reicht als Verbindung aus, wenn man sich Viggiani oder diGrassi ansieht, die zwar aus Bologna stammen, aber eine gänzlich andere Methodik präsentieren.

Fabris unterscheidet sich deutlich von Capoferro, dieser wieder von Lovino und dieser wieder von Giganti. Es mag Überschneidungen geben, aber der menschliche Körper unterliegt nun einmal gewissen Einschränkungen.

Der Faktor Nationalstolz

Kommen wir zum unangenehmen Teil. Mir ist durchaus bewusst, dass die Sache ihren Ursprung im modernen Italien hat. Insbesondere eine Gruppierung hat diese Agenda in ihren Publikationen von Anfang an vorangetrieben. Jetzt muss man aber verstehen, dass Nationalstolz ein wichtiger Teil der italienischen Mentalität ist (auch wenn die alten Rivalitäten immer noch vorhanden sind). Ich will das auch gar nicht kritisieren!

Sich aber ein „italienisches Fechtsystem“ herbei zu fabulieren, um die nationale Identität zu stärken, ist bestenfalls grenzwertig. In jedem Fall ist es wissenschaftlich unseriös.

Der Faktor Turnierfechten

Ein weiterer Faktor ist das Turnierfechten. Seit Jahrzehnten gibt es in Italien Turniere im Scherma Storica e Antica. Anfangs unterschied man noch zwischen Storica (das, was wir als klassisches Fechten kennen) und Antica (das, was wir als HEMA bezeichnen). Mittlerweile scheint die Grenze aber stark aufgeweicht zu sein.

Die Ausrichtung auf das Turnier brachte aber auch eine Spezialisierung auf turnier-relevante Techniken mit sich. Diese wurden verschiedensten Quellen entnommen und angepasst.

Um nun aber dieses Konglomerat an Stilen und Quellen zu rechtfertigen, hat man das Konstrukt des „Italienischen Fechtsystems“ erschaffen. Egal, was man nun an Techniken anwendet oder unterrichtet, es ist legalisiert, weil es ja diesem (fiktiven) System entspringt.

Fazit

Warum wehre ich mich jetzt eigentlich so gegen dieses fiktive Fechtsystem? Ist es nicht völlig egal, ob es so etwas gibt, oder nicht?

Das Mischen hat ja – wenn mit solider Basis, Hirn und klarer Zielsetzung gemacht – für Sparring, Turnier und einen Selbstverteidigungskontext durchaus seine Vorteile. Man denke an Bruce Lee: „Absorb what is useful. Discard what is not.“ Bis zu einem gewissen Grad mischen wir wahrscheinlich alle, einfach weil wir Menschen sind, ABER…

Das erste, was mir sauer aufstößt: Die meisten übergehen den ersten nicht unwesentlichen Schritt. Bau dir eine solide Basis in EINEM Stil auf. So erkennst du, was in deinem speziellen Fall nützlich ist und was nicht. Vor allem, benötigt man diese Basis, um zu verstehen, warum bestimmte Dinge nicht mehr funktionieren, wenn sie aus ihrem Kontext gerissen werden.

Die Sache wird weiters dann problematisch, wenn sie zur Rechtfertigung wird. Wenn man also nach Belieben Stile mischt, und es durch die Bezeichnung „italienisches Fechtsystem“ historisch erscheinen lassen will. Dabei lässt man beiläufig Hunderte Jahre Geschichte unter den Tisch fallen und tritt mal ebenso jedem historischen Meister auf die Zehen, der Wert auf seine regionalen oder ganz eigenen Traditionen legte. Einfacher kann man es sich eigentlich nicht machen.

Meine persönliche Grenze ziehe ich spätestens dann, wenn der Begriff von Institutionen im HEMA-Bereich gezielt konstruiert und verwendet wird. Wenn beispielsweise Publikationen erscheinen, die dieses moderne Konstrukt legitimieren sollen und vor allem dann, wenn wir über die Frage reden, wie „historisch“ HEMA sein und bleiben soll.