Seit es HEMA gibt, besteht ein Grundproblem: wir rekonstruieren Spezialfälle. Jeder Fechtmeister benutzte sein Werk auch als Werbung für sich und seine Methode – und stellte in den Stücken natürlich auch seine Besonderheiten zur Schau. Aber was taten die anderen? Wer sind die „gemeinen Fechter“, von denen oft die Rede ist?

Spezialtechniken und Werbung

Betrachtet man ein beliebiges Fechtbuch, stößt man immer wieder auf Aussagen wie „wie die gewöhnlichen Fechter tun“ oder „der Fechter, der die Kunst nicht beherrscht“. Zumeist werden diese Fechter als Negativbeispiele angeführt, leider aber nie genau definiert, was diese nun genau tun. Wie sieht deren Fechten nun aus? Gleicht es vielleicht gar dem, was wir aktuell im HEMA sehen – oder sind wir modernen Fechter sogar besser?

Die Problematik besteht darin, dass wir in unserer Rekonstruktion auf Spezialtechniken aufbauen. Ein umfassendes Werk wie das des Anonimo Bolognese ist leider sehr selten. Und selbst er zeigt uns in der Mehrzahl Techniken, die bereits weit über dem Niveau liegen, das er für den „gemeinen Fechter“ annimmt.

Wir üben also Spezialtechniken, die oft auch noch gegen andere, ebenso starke Fechter funktionieren sollen. Wer als Fortgeschrittener schon einmal gegen einen blanken Anfänger (oder ein Kind) gefochten hat weiß, dass gewisse, sonst verlässliche Techniken nicht mehr funktionieren, weil der Gegner beispielsweise die Bedrohung einfach ignoriert.

Der Anfänger als Maßstab

Einen möglichen Ansatzpunkt kann uns der Anfänger liefern, der völlig intuitiv handelt. In unserer Lichtschwert-Klasse habe ich auch immer wieder Kinder zwischen 11 und 14 Jahren, gegen die ich auch regelmäßig frei fechte. Und das ist nicht einfach!

Allerdings habe ich dabei auch gelernt, mit eben diesem rein intuitiven Gegner umzugehen. Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass beispielsweise eine Finte funktioniert – weil er sie gar nicht als Bedrohung wahrnimmt. Dafür muss ich mit wilden Hieben zurecht kommen, die aus Winkeln kommen, mit denen man eigentlich nicht (mehr) rechnet.

Wenn in den Quellen also vom „gemeinen Fechter“ die Rede ist – könnte damit eben ein solcher gemeint sein? Jemand mit ein wenig Grundwissen aber vor allem rein intuitiver Fechtweise? Jemand, der einfach ohne Überlegung handelt?

„So würde ich nie angreifen!“

Bei einigen Stücke höre ich von meinen Schülern oft diesen Satz: „So würde ich doch nie angreifen!“. Und dennoch steht es so im Stück. In vielen Fällen erkläre ich dann, dass es genau darum geht – das Unerwartet zu tun. Und meistens stimmt das auch.

Wenn aber explizit eine Abwehr dazu gezeigt wird, könnte es sich auch um einen „gemeinen Fechter“ handeln, der eben nicht weiß, dass man „so nicht angreift“? Sehen wir hier also eine Spezialtechnik gegen einen intuitiven Kämpfer?

Das würde bedeuten, dass wir die Stücke in diese Richtung abklopfen sollten, um ein Bild von dem zu bekommen, was den „gemeinen Fechter“ ausmacht.

Der fehlende Standardangriff der „gemeinen Fechter“

Bei der Arbeit an meinem Spadone-Buch stehe ich vor genau diesem Problem: Um eine kampftaugliche Rekonstruktion zu liefern, brauche ich Antworten auf Standardfragen. Und diese Fragen sind einfache Angriffe. Aber wie sehen die im konkreten Fall aus?

Greift der Gegner mit einem Fendente an? Oder doch eher einem Sgualembrato? Kommen die Angriffe mehrheitlich von oben, oder sind Hiebe von unten doch auch intuitiv? Wie sieht die Abwehr bei einem „gemeinen Fechter“ aus?Standardangriff Fendente

Aus den Assalti lassen sich diese Dinge kaum herleiten. Hier sehen wir bereits hochkomplexe Bewegungsabläufe, die einen Gegner bedingen, der ebenso komplex handelt. Er muss Hieben ausweichen, kontern, sich drehen, usw. All das würde ein Anfänger nicht tun – es würde ihn überfordern (und damit besiegt man ihn ja auch letztendlich).

Also muss ich Standardhandlungen extrapolieren – und das ist gar nicht so einfach, wie sich das anhört.

Die gemeinen Fechter

Grundsätzlich müssen wir davon ausgehen, dass die „gemeinen Fechter“ solche sind, die kaum oder nur wenig formelle Ausbildung im Waffenhandwerk hatten. Sie wissen, dass das spitze Ende in den Gegner gehört – viel mehr ist es nicht.

Wenn ein Angriff kommt, halten sie instinktiv die Klinge dazwischen oder schlagen danach wie nach einer Wespe. Eine richtige Abwehr kann man das – aus Sicht des geschulten Fechters – nicht nennen.

Wieso werden diese „gemeinen Fechter“ dann aber nicht von jedem halbwegs trainierten Fechter weggeputzt?

Der Anonimo gibt uns dazu eine Antwort, wenn er sagt:

„Wie oft komme es vor, dass ein Fechter anmutig und elegant fechtet mit dem Schwert in der Hand, und er trotzdem keinen Nutzen davon hat, denn so er einem Fechter gegenübersteht, der das Schwert auf rohe Art führt, muss es nicht sein, dass der rohe Fechter im Kampf dem Anmutigen unterliegt, denn der Kampf gereicht nur ihm zum Vorteil, denn der rohe Kämpfer kümmert sich nicht um die Schönheit, er widmet sich seinem Nutzen und vernachlässigt seine Erscheinung, und jener, welcher elegant kämpft aber, sorgt sich um die Eleganz und vernachlässigt seinen Nutzen.“

Hier haben wir also unseren Grund. Der ausgebildete Fechter unterliegt, weil er sich um seine „Form“ kümmert, also das „Wie“ und dabei das „Was“ vernachlässigt – nämlich einfach den Sieg über den Gegner.

Andersherum können wir also davon ausgehen, dass der „gemeine Fechter“ sich vor allem darum kümmert, Treffer zu landen. Er vernachlässigt dabei auch seinen Eigenschutz, setzt wahrscheinlich zu viel Kraft ein und wenn seine Angriffe nicht treffen, hat er ein Problem. Seine Abwehr ist nachlässig, sie bringt ihm keinen taktischen Vorteil.

Wie die gemeinen Fechter tun

Man kann also von einem „gemeinen Fechter“ nicht erwarten, dass er mit einer doppelten Finte vorgeht. Maximal ein Antäuschen oben und schlagen unten wird vorkommen.

Dafür werden es vor allem direkte Angriffe sein, die er auf uns niederfahren lässt. Oft wird er wohl auch die Klinge angreifen, anstelle des Gegners. Und natürlich werden seine Angriffe geradlinig kommen, ohne besondere Winkelarbeit.

All diese Punkte werden uns von Autoren als Dinge präsentiert, die ein Fechter mit „echter Kunst“ eben nicht tut – wodurch wir im Umkehrschluss davon ausgehen können, dass sie beim „gemeinen Fechter“ häufig sind.

Betrachtet man die aktuelle Szene (insbesondere die Turniere), wird man viel davon wiedererkennen. Die „gemeinen Fechter“ sind also im Moment wohl der Gegnertyp, dem man am häufigsten begegnen kann. Umso bedauerlicher ist es daher, dass uns die Autoren nicht mehr Methoden gegen genau diesen Typus hinterlassen haben.

Der Tellerrand

Für den quellenbezogenen Fechter stellt die Quelle eine Art Tellerrand dar. Er bewegt sich innerhalb des Kontextes, den ihm die Quelle vorgibt – und das ist eben im Normalfall nicht der, den man in der Praxis vorfindet. Wer jemals das Vergnügen hatte, mit jemandem zu fechten, dessen technisches Niveau dem eigenen entsprach, der weiß wie anders sich das anfühlt. Plötzlich funktionieren auch Stücke aus den Quellen, einfach weil der Gegner so reagiert, wie das die Autoren vorausgesetzt haben.

Um nun aber über den sprichwörtlichen Tellerrand hinaus zu sehen, muss man zuerst extrapolieren. Man muss sich überlegen, was die nackte Basis des eigenen Fechtstils ist, die Bottom Line. Und das ist dann der „gemeinen Fechter Kunst“, wenn man so will.

Der Blick über den Tellerrand hinweg verändert auch den in den eigenen Teller hinein. Und das bringt einen dann auch wieder weiter.