Seit den Werken von Castle, Hutton und Rosaroll gibt es den Mythos einer linearen Entwicklung im Fechten. Die viktorianischen Autoren gingen – ganz im Sinne des Zeitgeists – davon aus, dass die Fechtkunst ihrer Tage jener der Vergangenheit überlegen sei. Aber ist das überhaupt haltbar?

Die Viktorianer

Hutton, der Vater der linearen Entwicklung

Portrain von Alfred Hutton.

Alfred Hutton, Egerton Castle, Giuseppe Rosaroll – die Liste viktorianischer Fechtmeister ließe sich lange fortführen. Ihnen gemein ist ein elitärer Autoritätsanspruch, der dem Zeitgeist entspricht. Das 19. Jahrhundert in Europa zeichnet sich durch einen starken Überlegenheitsanspruch gegenüber „den anderen“ aus.

Das sind zumeist andere Ethnien, die man aufgrund ihrer kulturellen Unterlegenheit kolonisieren und unterdrücken darf. Immerhin bringt man ihnen die Segnungen einer überlegenen Zivilisation. Von oben herab schafft die Politik ein regelrechtes „Sendungsbewusstsein“, dass sich auch im Volk niederschlägt. Die späteren politischen Strömungen die zu zwei Weltkriegen führen, sind bereits hier deutlich spürbar.

Ein ganzer Zeitabschnitt wird nach einer britischen Königin benannt, weil die Geisteshaltung und das Britische Empire so maßgeblich dafür sind. Ganz Europa blickt nach England.

Lineare Entwicklung im Fechten

Eine Grundannahme der viktorianischen Autoren ist, dass es im Fechten eine lineare Entwicklung gibt. Man geht also davon aus, dass die Fechtkunst sich von einfachen „Tricks“ nach und nach zu einer komplexen Kunst entwickelt hat. Der frühmittelalterliche Krieger führt seine Waffe also bloß mit Kraft, der Ritter benutzt ein paar Tricks, die ihm auf dem Schlachtfeld genützt haben, und so weiter.  Am Ende dieser Entwicklung steht das spät-viktorianische Stoßfechten und das militärische Säbelfechten.

Dieser Zugang ist dem viktorianischen Denken geschuldet. Nichts kann besser sein als das, was ist. So wie man alle Nicht-Weißen als primitiv und kulturell unterlegen betrachtet, so tut man das auch mit den Fechtmeistern der Vergangenheit. Alles führt zu jener Perfektion hin, die man jetzt erreicht hat.

Der Irrtum der linearen Entwicklung

Der gewaltige Denkfehler der Viktorianer besteht darin, eine lineare Entwicklung anzunehmen. Geschichte verläuft nicht linear – ansonsten würden wir nicht die selben Vorgänge immer wieder beobachten. Geschichte verläuft vielmehr zyklisch, beinhaltet ein Werden und Vergehen im Kleinen wie im Großen.

In der Fechtkunst ist dies aber nicht ganz so deutlich. Wir wissen zu wenig über die Antike in diesem Fall, es ist aber denkbar, dass es bereits hier ausgeklügelte Methoden des Waffengebrauchs gab. Auch das Frühmittelalter ist noch sprichwörtlich „dunkel“.

Ab dem Mittelalter sehen wir aber Entwicklungen, die eine ständige Anpassung deutlich machen. Waffen und Rüstungen stehen in ständigem Widerstreit, werden die einen verändert, müssen die anderen sich anpassen. So ist es auch mit den Fechtmethoden.

Veränderungen im militärischen Bereich schlagen sich in solchen in der Fechtkunst nieder. Mit zunehmendem Verschwinden von Ritterheeren und Harnischen passen auch die Waffen sich wieder an. Mit dem Aufkommen zuverlässigerer Feuerwaffen verliert das Schwert als Beiwaffe immer mehr an Relevanz. Nun beginnt eine Parallelentwicklung: einerseits entstehen rein militärische Klingenformen, andererseits rein zivile.

Die Entwicklung beginnt sich also zu spalten. Während im zivilen Bereich das Stoßfechten dominant wird, haben wir im militärischen weiterhin Hiebklingen, insbesondere bei berittenen Einheiten. Und diese Spaltung bleibt uns auch erhalten – bis sie in das klassischen Fechten mündet.

Der Fehler der Vorannahme

Worin bestand nun der eigentliche Denkfehler? In der Vorannahme (oder dem Vorurteil), dass alles Alte automatisch dem Neuen unterlegen sein muss. Der Fortschrittsenthusiamus des 19. Jahrhunderts schlägt sich hier besonders nieder.

Zweihänderkampf aus "Ancient Swordplay"

Zweihänderkampf aus „Ancient Swordplay“.

Wenn Castle also die Bologneser Tradition als das „Zeitalter der bizarren Huten“ bezeichnet, dann tut er dies im Verständnis, dass die Reduktion der Fechthaltungen eine Optimierung darstellt, keine bloße Anpassung an Waffe und Kontext. Für ihn ist es einfach nicht vorstellbar, wozu man so viele Guardie brauchen könnte.

Ebenso wenig kann man sich vorstellen, anders als rein linear zu fechten. Der Stoß wurde ja bereits von Agrippa als dem Hieb überlegen bezeichnet – und das wurde im Weiteren ja perfektioniert. Dummerweise trifft das nur auf den rein zivilen Teil der Fechtkunst zu – ein Denkfehler, der den Offizieren eigentlich auffallen müsste, es aber nicht tut. Aber selbst der Säbel wird ja linear gefochten. Die Linie als dem Kreis überlegenes Modell.

Und so rekonstruieren Hutton und Castle ältere Fechtstile mit dem Vokabular und den Methoden ihrer Zeit. Wann immer die alten Texte für sie keinen Sinn ergeben, übersetzen sie diese in die Fechtsprache ihres Jahrhunderts – und schaffen damit eine Art Eisenkugel, die uns manchmal heute noch am Bein hängt.

Die Belastung der linearen Entwicklung

Es wäre schön, wenn man sagen könnte, dass die Auffassungen des viktorianischen Zeitalters heute keine Bedeutung mehr haben. Gerade im Fechten ist dies aber nicht der Fall, denn sie wurden im Olympischen Fechten weiter transportiert. Dies zeigt sich immer dann, wenn Historische und Olympische Fechter um die Legitimation ihrer Sportart streiten.

Das Olympische Fechten ist der direkte Nachfahre des Klassischen Fechtens – und trägt leider all seinen Ballast mit sich. Dazu gehört eben auch die grundlegende Auffassung, dass diese Form des Fechtens die Spitze der Entwicklung darstellt, das Endprodukt einer Evolution.

Wenn es um die verschiedenen Stile im Historischen Fechten geht, merkt man diese Einstellung recht deutlich – alles wird an den Methoden des Sportfechtens gemessen. Das geht soweit, dass gewisse Autoren offen die Meinung vertreten, nur ein Fechtmeister (ein Titel, der im Olympischen Fechten geschützt ist!) dürfe den Gebrauch von Klingen unterrichten, egal um welche Form es sich dabei handelt. Argumentiert wird hierbei meist mit einer gleichen Methoden-Basis.

Auch schön war die Argumentation eines Kampfleiters aus dem Sportfechten, dass man diese Regeln „schon seit über hundert Jahren“ verwende und sie daher über jeden Zweifel erhaben seien. Dummerweise ging es in diesem Fall um Militärsäbel, nicht um Florett oder Degen…

Es zeigt sich also, dass es vor allem die Auffassung einer linearen Entwicklung ist, die dazu führt, das letzte Glied als das Optimum anzusehen, auch wenn dieses eigentlich am Ende eines weit entfernten Seitenastes sitzt.

Fazit

Die Annahme der linearen Entwicklung ist bei Kampfkünsten ebenso falsch wie in anderen Bereichen. In China haben wir verschiedenste Methoden für oft gleiche Waffen. In Japan gibt es diverse Schulen, die alle genau die selben Waffen benutzen, in Europa mag das ähnlich gewesen sein – wir wissen es aber nicht.

Wir wissen nur von ein paar Methoden, die zufälligerweise in einer zeitlichen Abfolge liegen – und selbst das stimmt nicht. In Wahrheit haben wir nur Schriftstücke, die sich wie eine Perlenkette aufreihen lassen. Wann die diversen Methoden entstanden sind, und wie viele davon parallel existiert haben, darüber fehlt uns jeder Beleg. Wir können maximal anhand der Waffen und Rüstungen eine vage Einteilung treffen.

Eine Evolution, also eine stetige Verbesserung, gab es jedoch nie. Es gab eine stetige Anpassung an Veränderungen, eine Optimierung im Moment, sozusagen. Doch mit der Änderung der Umstände, musste diese erneut beginnen. Wäre das anders, müsste der Degenfechter gegen einen Ritter im Vollharnisch problemlos siegen – eine lustige Vorstellung, wie sie in manchen Fantasy-Rollenspielen propagiert wird. In der Realität sähe das Ergebnis aber grundlegend anders aus.